JOHANNES ITTEN

(1888–1967)

 

 

geboren im berner oberland

ausbildung als lehrer

 

1913–1916

schüler von adolf hölzel, akademie stuttgart

 

1916

ausstellung in der galerie sturm, berlin

kunstlehrer in wien

 

1919–1923

meister am bauhaus, aufbau des vorkurses

 

1923–1926 

handweberei Herrliberg

1926–1931

itten-schule berlin

 

1932–1938

lehrer an der flächenkunstschule krefeld

 

1938–1953

direktor der züricher kunstgewerbeschule 

 

ab 1955 widmet er sich ausschließlich der malerei

MEINE BAUHAUS-JAHRE

JOHANNES ITTEN

Der Einladung einer Schülerin folgend, übersiedelte ich 1916 nach Wien. Es war immer noch Krieg und die Stadt voller düsterer Spannungen. Um malen zu können, versuchte ich auch hier, meinen Lebensunterhalt mit Kunstunterricht zu verdienen.

 

Bald wuchs die Schar der Schüler, die ich vor neuartige Aufgaben stellen konnte. Geometrische und rhythmische Formen, Probleme der Proportion und der expressiven Bildkomposition wurden durchgearbeitet. Neu waren die Aufgaben mitTexturen und das Ausarbeiten der subjektiven Formen. Neben der Lehre von den polaren Kontrasten brachten die Übungen zur Lockerung und Konzentration der Schüler erstaunliche Erfolge. Der schöpferische Automatismus wurde von mir als einer der wichtigsten Faktoren künstlerischen Schaffens erkannt. Ich selbst arbeitete an geometrisch-abstrakten Bildern, die auf sorgfältigen Bildkonstruktionen beruhten.

 

Alma Mahler-Gropius, die sich sehr für meine Malerei und Pädagogik interessierte, lud mich im Sommer 1919 ein zu einem Gespräch mit ihrem Mann Walter Gropius, der beauftragt war, die Leitung des Staatlichen Bauhauses in Weimar zu übernehmen. Nachdem Gropius meine eigenen Arbeiten und die der Schüler gesehen hatte, machte er mir den Vorschlag, als Lehrer an das Bauhaus nach Weimar zu kommen.​

Was mich dort besonders anzog, waren die Unterrichtsräume und Werkstätten, dazu die Tatsache, daß das Bauhaus noch leer war und deshalb Neues ohne große Abbrucharbeit aufgebaut werden konnte. Die von Walter Gropius bis zu diesem Zeitpunkt berufenen Lehrer Gerhard Marcks und Lyonel Feininger waren bereits dort. Ziel und Wege des Bauhauses waren 1919 noch wenig bekannt und lediglich durch ein Manifest von Walter Gropius publiziert worden.

 

In diesem Manifest hieß es unter anderem »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau ... Architekten, Bildhauer, Maler, wir müssen zum Handwerk zurück ... Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker, der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers... Die Grundlage des Werkmäßigen ist aber unerläßlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.«​

Für das Wintersemester 1919/1920 hatten sich außerdem jüngere und ältere Schüler aus den verschiedensten Landesteilen Deutschlands mit ganz unterschiedlicher Vorbildung angemeldet. Die meisten hatten die üblichen Kunstgewerbeschulen und Kunstakademien besucht. Die für die Aufnahme am Bauhaus vorgelegten Arbeiten waren ohne individuelle Aussage. Es war schwierig, sich über Begabung und Charakter der Schüler ein Urteil zu bilden. Bei meinen Schülern in Wien hatte ich die Erfahrung gemacht, daß es möglich war, künstlerisch Interessierte, deren Begabung noch schlummerte, zu wecken und ihre individuelle Originalität zu steigern.

 

Ich schlug deshalb Walter Gropius vor, alle Schüler, die ein künstlerisches Interesse zeigten, für ein Semester provisorisch aufzunehmen. Dieses provisorische Semester nannten wir «Vorkurs». Der Name Vorkurs bezeichnete also ursprünglich weder einen besonderen Lehrstoff, noch bedeutete er eine neuartige Lehrmethode. Die Leitung des Vorkurses übernahm ich selbst im Herbst 1919. Walter Gropius ließ mir in großzügiger Weise völlige Freiheit im Aufbau und Thema des Unterrichts.

Es stellten sich mir für den Vorkurs drei Aufgaben:

 

1.

Die schöpferischen Kräfte und damit die künstlerische Begabung der Lernenden freizumachen.

 

Eigene Erlebnisse und Erkenntnisse sollten zu echtem Arbeiten führen. Die Schüler sollten sich nach und nach von aller toten Konvention befreien und Mut fassen für eigene Arbeit.

 

2.

Die Berufswahl der Studierenden sollte erleichtert werden.

 

Die Material- und Texturübungen waren hier eine wertvolle Hilfe. Jeder Studierende fand in kurzer Zeit heraus, welches Material ihn ansprach, ob Holz, Metall, Glas, Stein, Ton oder Gesponnenes ihn zu schöpferischem Tun anreizte. Leider fehlte damals für den Vorkurs die Bastelwerkstatt, in der alle grundlegenden Handgriffe, wie Hobeln, Feilen, Sägen, Biegen, Leimen und Löten, gemacht werden können.

 

3.

Für ihre zukünftigen künstlerischen Berufe sollten den Studierenden die Grundgesetze bildnerischen Gestaltens vermittelt werden.

 

Die Gesetze der Form und der Farbe eröffneten den Studierenden die Welt des Objektiven. Im Verlaufe der Arbeit konnten sich die subjektiven und die objektiven Form und Farbprobleme in vielfältiger Weise durchdringen.

Für den Vorkurs war ein Semester vorgesehen. Nach erfolgreicher Absolvierung des Vorkurses sollten die Schüler in den Werkstätten des Bauhauses einen handwerklichen Beruf erlernen und gleichzeitig für eine zukünftige Zusammenarbeit mit der Industrie vorbereitet werden. Wichtig war mir beim Unterrichten der künstlerischen Darstellungsmittel, dass sich die verschiedenartigen Temperamente und Begabungen individuell angesprochen fühlten. Nur so konnte die schöpferische Atmosphäre entstehen, die originalem Arbeiten förderlich ist.

 

Die Arbeiten sollten »echt« sein.

 

Der Studierende sollte ein natürliches Selbstvertrauen gewinnen und schließlich seinen Beruf finden. Verschieden begabte Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf die Gestaltungsmittel und entwickeln sich entsprechend verschiedenartig. Die einen sprechen besonders an auf das Hell-Dunkel, andere auf die Formen, den Rhythmus, die Farbe, die Proportionen und Konstruktionen, die Texturen, die Raumrichtungen oder die Plastik. So konnte ich in einem Studierenden einen Hell-Dunkel-Typ sehen oder einen rhythmischen Typ oder auch einen Metall-, Holz- oder Glastyp erkennen. Diese Typen sind aber selten eindeutig; meistens sind es mehrere Begabungsrichtungen, die eine Individualität bestimmen. Das Aufschließen der individuellen Potenz erreichte ich mit einer bestimmten Weise, die Gestaltungsmittel zu lehren. 

 

Zuerst muß die Phantasie und die schöpferische Fähigkeit befreit und gestärkt werden.

 

Wenn das erreicht ist, dürfen technisch-praktische Anforderungen und schließlich auch wirtschaftliche Marktüberlegungen einbezogen werden. Junge Leute, die mit Marktforschung und praktisch-technischer Arbeit beginnen, fühlen sich sehr selten ermutigt zur Suche nach wirklich Neuem. Wenn neue Ideen künstlerische Gestalt annehmen sollen, müssen körperliche, sinnliche, seelische und intellektuelle Kräfte und Fähigkeiten gleichermaßen bereit sein und zusammenwirken. Diese Einsicht bestimmte weitgehend Stoff und Methode meines Bauhaus-Unterrichts. Es galt, den Menschen in seiner Ganzheit als schöpferisches Wesen aufzubauen, ein Programm, das ich auch im Meisterrat immer wieder vertreten habe.

 

Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit nach dem Krieg war allerdings sehr nachteilig für die Arbeit. Viele Schüler waren mittellos und hungerten sich in eine ungewisse Zukunft hinein. Ateliers waren zwar vorhanden; aber sie waren ungeheizt. In den Klassenräumen gab es anfänglich weder Tische noch Stühle; die Schüler arbeiteten hockend auf dem Boden.

So unterrichtete ich im ersten Winter 1919/20 nur an einem Vormittag in der Woche. Die übrige Zeit arbeiteten die Schüler an den gestellten Aufgaben alleine und ohne Korrektur in ihren Wohnungen. Dieses «Auf-sich-selbst-angewiesen-Sein» war nicht bedeutungslos für das «Sich-selbst-Finden». Als im Frühjahr 1920 der erste Vorkurs zu Ende war und niemand sich um die Schüler, die nun in die Werkstätten eintreten sollten, kümmerte, fiel es mir zu, ihnen auch dort Aufgaben zustellen. So ließ ich die im Vorkurs durchgearbeiteten formalen Grundlagen an Gegenständen praktisch erproben.

 

Am Bauhaus bestand keine Klasse für Architektur. Walter Gropius, der der einzige Architekt am Bauhaus war, hatte, da er mit Organisationsschwierigkeiten und Privataufträgen vollauf beschäftigt war, selbst keine Zeit zum Unterrichten. Damals habe ich mit den Schülern überall da begonnen, wo niemand Unterricht erteilte. Paul Klee, Georg Muche und Oskar Schlemmer wurden auf meinen Vorschlag hin an das Bauhaus berufen. Erst im Sommer 1921 war der »Meisterrat« vollständig, und die Werkstätten bekamen ihre Leiter. 

Ich studierte östliche Philosophie, befaßte mich mit persischem Mazdaismus und dem Urchristentum. So kam ich zu der Einsicht, daß unserem nach außen gerichteten wissenschaftlichen Forschen und Technisieren ein nach innen orientiertes Denken und die Seelenkräfte das Gegengewicht halten müssen. Georg Muche war durch seine Kriegserlebnisse zu ähnlichen Denkresultaten gekommen; wir arbeiteten in freundschaftlicher Weise zusammen. Für uns und unsere Arbeit suchten wir nach Grundlagen einer neuen Lebenspraxis. Damals wurde ich verlacht, weil ich Atem- und Konzentrationsübungen machte. Heute ist es vielen Menschen selbstverständlich geworden, sich mit östlicher Philosophie zu beschäftigen.

 

Diese ersten Bauhaus-Jahre werden fälschlich als die romantische Zeit des Bauhauses bezeichnet. Meiner Meinung nach waren es die universalistischen Jahre. Sicher sind damals im Überschwang des fieberhaften Suchens und Praktizierens Fehler gemacht worden. Es fehlte uns allen ein großer Lehrer, der in dem brodelnden Chaos hätte führen können.

So ließ ich das Bild der Kreuzigung von Grünewald nach einem schwarzweißen Projektionsbild interpretieren, nachdem die Schüler die Probleme der expressiven Formen durchgearbeitet hatten. Ähnlich dem Klavierspieler, hatten die Schüler nachempfindend wiederzugeben, wie in dem Bild die Tragik des Geschehenen zum Ausdruck gebracht worden war.

 

Eine Analysenstunde gab Walter Gropius 1923 Anlass zu der Bemerkung, daß er meinen Unterricht der Regierung gegenüber nicht mehr verantworten könne.

 

Ohne weitere Auseinandersetzung entschloß ich mich spontan, das Bauhaus zu verlassen.

Grundlage meiner Gestaltungslehre war die allgemeine Kontrastlehre.

 

Das Hell-Dunkel, die Material- und Texturstudien, die Formen- und Farbenlehre, der Rhythmus und die expressiven Formen wurden in ihren Kontrastwirkungen besprochen und dargestellt. Das Finden und Aufzählen der verschiedenen Kontrastmöglichkeiten war immer eine der aufregendsten Unterrichtsstunden, denn die Schüler erkannten, dass sich eine völlig neue Welt auftat. Solche Kontraste sind:

groß–klein, lang–kurz, breit–schmal, dick–dünn, schwarz–weiß, viel–wenig, gerade–gebogen, spitz–stumpf, horizontal–vertikal, diagonal–zirkulär, hoch–niedrig; Fläche–Linie, Fläche–Körper, Linie–Körper; glatt–rauh, hart–weich, ruhig–bewegt, leicht–schwer, durchsichtig–undurchsichtig, stetig–unterbrochen, flüssig–fest, süß–sauer, stark–schwach, laut–leise, dazu kommen die sieben Farbkontraste.​

Matthias Grünewald, Isenheimer Altar, Kreuzigung, Colmar Musée Unterlinden.

»Itten war ein genialer, absolut origineller und vollkommener Pädagoge«, »eine in jeder Hinsicht beherrschende, imponierende Persönlichkeit«, der seinen Schülern »seinen Stempel aufdrückte«.

 

Paul Citroen

Erinnerungen an das Bauhaus, 1971

Die furchtbaren Geschehnisse und die erschütternden Verluste des Krieges hatten auf allen Gebieten Wirrwarr und Ratlosigkeit gebracht. Unter den Schüler waren uferlose Diskussionen und eifriges Suchen nach einer neuen geistigen Haltung. Meine Aufmerksamkeit wurde auf Spenglers Buch »Untergang des Abendlandes« gelenkt. Mir wurde bewußt, daß die wissenschaftlich-technische Zivilisation an einem kritischen Punkt angekommen war. Die Schlagworte »Zurück zum Handwerk« oder »Einheit von Kunst und Technik« schienen mir die Probleme nicht lösen zu können.

Durch die Vorträge Adolf Hölzels in Stuttgart war ich selbst eindringlich auf die Bedeutung des Studiums alter Meisterwerk hingewiesen worden.

 

Das Wissen um die Arbeitsweise alter Meister ist nützlich.

 

Es schärft das Bewusstsein für Ordnung und Gliederung der Bildfläche und das Gefühl für Rhythmik und Texturen. Hindernd und schädlich kann dieses Studium nur dann sein, wenn man sich selbst nicht wachsam kontrolliert und in ein akademisch nachahmendes Arbeiten verfällt.

 

Immer, nachdem formale, rhythmische oder farbige Grundgesetze behandelt worden waren, ließ ich entsprechende Meisterwerke analysieren, um den Schülern zu zeigen, wieMeister die gleichen Probleme gelöst hatten. Wenn ein Klavierspieler zum ersten mal ein Musikstück spielend zu erleben sucht, kann sein Bestreben nicht sein, jede Note und jeden Takt nach der Vorschrift des Komponisten zu spielen, sondern er wird bemüht sein, das allgemeine, große Ganze der Komposition zu erfassen. Erst nach vielen mühsamen Einzelstudien kann er zu einer genauen Wiedergabe kommen.

Itten betont immer wieder die Reinheit im Bilde, hervorgehend aus der körperlichen Reinheit [im Mazdaznan-Sinne] ... 

 

Aber sollen wir Heilige werden? Ich glaube nicht, dass das das allein Richtige ist, das Mönchlein des Mittelalters.

 

Alma Siedhoff-Buscher

Grundlage meiner Gestaltungslehre war die allgemeine Kontrastlehre.

 

Das Hell-Dunkel, die Material- und Texturstudien, die Formen- und Farbenlehre, der Rhythmus und die expressiven Formen wurden in ihren Kontrast-wirkungen besprochen und dargestellt. Das Finden und Aufzählen der verschiedenen Kontrastmöglichkeiten war immer eine der aufregendsten Unterrichtsstunden, denn die Schüler erkannten, dass sich eine völlig neue Welt auftat. 

 

Solche Kontraste sind:

groß–klein, lang–kurz, breit–schmal, dick–dünn, schwarz–weiß, viel–wenig, gerade–gebogen, spitz–stumpf, horizontal–vertikal, diagonal–zirkulär, hoch–niedrig; Fläche–Linie, Fläche–Körper, Linie–Körper; glatt–rauh, hart–weich, ruhig–bewegt, leicht–schwer, durchsichtig–undurchsichtig, stetig–unterbrochen, flüssig–fest, süß–sauer, stark–schwach, laut–leise, dazu kommen die sieben Farbkontraste.​

So ließ ich das Bild der Kreuzigung von Grünewald nach einem schwarzweißen Projektionsbild interpretieren, nachdem die Schüler die Probleme der expressiven Formen durchgearbeitet hatten. Ähnlich dem Klavierspieler, hatten die Schüler nachempfindend wiederzugeben, wie in dem Bild die Tragik des Geschehenen zum Ausdruck gebracht worden war.

Eine Analysenstunde gab Walter Gropius 1923 Anlass zu der Bemerkung, daß er meinen Unterricht der Regierung gegenüber nicht mehr verantworten könne.

 

Ohne weitere Auseinandersetzung entschloß ich mich spontan, das Bauhaus zu verlassen.

JOHANNES ITTEN (1888–1967)

 

geboren im berner oberland

ausbildung als lehrer

 

1913–1916 schüler von adolf hölzel, akademie stuttgart

 

1916 ausstellung in der galerie sturm, berlin

kunstlehrer in wien

 

1919–1923 meister am bauhaus, aufbau des vorkurses

 

1923–1926 handweberei Herrliberg

1926–1931 itten-schule berlin

 

1932–1938 lehrer an der flächenkunstschule krefeld

 

1938–1953 direktor der züricher kunstgewerbeschule

 

ab 1955 widmet er sich ausschließlich der malerei

 

JOHANNES ITTEN

 

MEINE BAUHAUS-JAHRE

Der Einladung einer Schülerin folgend, übersiedelte ich 1916 nach Wien. Es war immer noch Krieg und die Stadt voller düsterer Spannungen. Um malen zu können, versuchte ich auch hier, meinen Lebensunterhalt mit Kunstunterricht zu verdienen.

 

Bald wuchs die Schar der Schüler, die ich vor neuartige Aufgaben stellen konnte. Geometrische und rhythmische Formen, Probleme der Proportion und der expressiven Bildkomposition wurden durchgearbeitet. Neu waren die Aufgaben mitTexturen und das Ausarbeiten der subjektiven Formen. Neben der Lehre von den polaren Kontrasten brachten die Übungen zur Lockerung und Konzentration der Schüler erstaunliche Erfolge. Der schöpferische Automatismus wurde von mir als einer der wichtigsten Faktoren künstlerischen Schaffens erkannt. Ich selbst arbeitete an geometrisch-abstrakten Bildern, die auf sorgfältigen Bildkonstruktionen beruhten.

 

Alma Mahler-Gropius, die sich sehr für meine Malerei und Pädagogik interessierte, lud mich im Sommer 1919 ein zu einem Gespräch mit ihrem Mann Walter Gropius, der beauftragt war, die Leitung des Staatlichen Bauhauses in Weimar zu übernehmen. Nachdem Gropius meine eigenen Arbeiten und die der Schüler gesehen hatte, machte er mir den Vorschlag, als Lehrer an das Bauhaus nach Weimar zu kommen.​

Für das Wintersemester 1919/1920 hatten sich außerdem jüngere und ältere Schüler aus den verschiedensten Landesteilen Deutschlands mit ganz unterschiedlicher Vorbildung angemeldet. Die meisten hatten die üblichen Kunstgewerbeschulen und Kunstakademien besucht. Die für die Aufnahme am Bauhaus vorgelegten Arbeiten waren ohne individuelle Aussage. Es war schwierig, sich über Begabung und Charakter der Schüler ein Urteil zu bilden. Bei meinen Schülern in Wien hatte ich die Erfahrung gemacht, daß es möglich war, künstlerisch Interessierte, deren Begabung noch schlummerte, zu wecken und ihre individuelle Originalität zu steigern.

 

Ich schlug deshalb Walter Gropius vor, alle Schüler, die ein künstlerisches Interesse zeigten, für ein Semester provisorisch aufzunehmen. Dieses provisorische Semester nannten wir «Vorkurs». Der Name Vorkurs bezeichnete also ursprünglich weder einen besonderen Lehrstoff, noch bedeutete er eine neuartige Lehrmethode. Die Leitung des Vorkurses übernahm ich selbst im Herbst 1919. Walter Gropius ließ mir in großzügiger Weise völlige Freiheit im Aufbau und Thema des Unterrichts.

Für den Vorkurs war ein Semester vorgesehen. Nach erfolgreicher Absolvierung des Vorkurses sollten die Schüler in den Werkstätten des Bauhauses einen handwerklichen Beruf erlernen und gleichzeitig für eine zukünftige Zusammenarbeit mit der Industrie vorbereitet werden. Wichtig war mir beim Unterrichten der künstlerischen Darstellungsmittel, dass sich die verschiedenartigen Temperamente und Begabungen individuell angesprochen fühlten. Nur so konnte die schöpferische Atmosphäre entstehen, die originalem Arbeiten förderlich ist.

 

Die Arbeiten sollten »echt« sein.

 

Der Studierende sollte ein natürliches Selbstvertrauen gewinnen und schließlich seinen Beruf finden. Verschieden begabte Menschen reagieren ganz unterschiedlich auf die Gestaltungsmittel und entwickeln sich entsprechend verschiedenartig. Die einen sprechen besonders an auf das Hell-Dunkel, andere auf die Formen, den Rhythmus, die Farbe, die Proportionen und Konstruktionen, die Texturen, die Raumrichtungen oder die Plastik. So konnte ich in einem Studierenden einen Hell-Dunkel-Typ sehen oder einen rhythmischen Typ oder auch einen Metall-, Holz- oder Glastyp erkennen. Diese Typen sind aber selten eindeutig; meistens sind es mehrere Begabungsrichtungen, die eine Individualität bestimmen. Das Aufschließen der individuellen Potenz erreichte ich mit einer bestimmten Weise, die Gestaltungsmittel zu lehren.

 

Zuerst muß die Phantasie und die schöpferische Fähigkeit befreit und gestärkt werden.

 

Wenn das erreicht ist, dürfen technisch-praktische Anforderungen und schließlich auch wirtschaftliche Marküberlegungen einbezogen werden. Junge Leute, die mit Marktforschung und praktisch-technischer Arbeit beginnen, fühlen sich sehr selten ermutigt zur Suche nach wirklich Neuem. Wenn neue Ideen künstlerische Gestalt annehmen sollen, müssen körperliche, sinnliche, seelische und intellektuelle Kräfte und Fähigkeiten gleichermaßen bereit sein und zusammenwirken. Diese Einsicht bestimmte weitgehend Stoff und Methode meines Bauhaus-Unterrichts. Es galt, den Menschen in seiner Ganzheit als schöpferisches Wesen aufzubauen, ein Programm, das ich auch im Meisterrat immer wieder vertreten habe. Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit nach dem Krieg war allerdings sehr nachteilig für die Arbeit. Viele Schüler waren mittellos und hungerten sich in eine ungewisse Zukunft hinein. Ateliers waren zwar vorhanden; aber sie waren ungeheizt. In den Klassenräumen gab es anfänglich weder Tische noch Stühle; die Schüler arbeiteten hockend auf dem Boden.

So unterrichtete ich im ersten Winter 1919/20 nur an einem Vormittag in der Woche. Die übrige Zeit arbeiteten die Schüler an den gestellten Aufgaben alleine und ohne Korrektur in ihren Wohnungen. 

 

Dieses »Auf-sich-selbst-angewiesen-Sein« war nicht bedeutungslos für das »Sich-selbst-Finden«. 

 

Als im Frühjahr 1920 der erste Vorkurs zu Ende war und niemand sich um die Schüler, die nun in die Werkstätten eintreten sollten, kümmerte, fiel es mir zu, ihnen auch dort Aufgaben zustellen. So ließ ich die im Vorkurs durchgearbeiteten formalen Grundlagen an Gegenständen praktisch erproben.

 

Am Bauhaus bestand keine Klasse für Architektur. Walter Gropius, der der einzige Architekt am Bauhaus war, hatte, da er mit Organisationsschwierigkeiten und Privataufträgen vollauf beschäftigt war, selbst keine Zeit zum Unterrichten. Damals habe ich mit den Schülern überall da begonnen, wo niemand Unterricht erteilte. Paul Klee, Georg Muche und Oskar Schlemmer wurden auf meinen Vorschlag hin an das Bauhaus berufen. Erst im Sommer 1921 war der »Meisterrat« vollständig, und die Werkstätten bekamen ihre Leiter.

Die furchtbaren Geschehnisse und die erschütternden Verluste des Krieges hatten auf allen Gebieten Wirrwarr und Ratlosigkeit gebracht. Unter den Schüler waren uferlose Diskussionen und eifriges Suchen nach einer neuen geistigen Haltung. Meine Aufmerksamkeit wurde auf Spenglers Buch »Untergang des Abendlandes« gelenkt. Mir wurde bewußt, daß die wissenschaftlich-technische Zivilisation an einem kritischen Punkt angekommen war. Die Schlagworte »Zurück zum Handwerk« oder »Einheit von Kunst und Technik« schienen mir die Probleme nicht lösen zu können.​

Ich studierte östliche Philosophie, befaßte mich mit persischem Mazdaismus und dem Urchristentum. So kam ich zu der Einsicht, daß unserem nach außen gerichteten wissenschaftlichen Forschen und Technisieren ein nach innen orientiertes Denken und die Seelenkräfte das Gegengewicht halten müssen. Georg Muche war durch seine Kriegserlebnisse zu ähnlichen Denkresultaten gekommen; wir arbeiteten in freundschaftlicher Weise zusammen. Für uns und unsere Arbeit suchten wir nach Grundlagen einer neuen Lebenspraxis. Damals wurde ich verlacht, weil ich Atem- und Konzentrationsübungen machte. Heute ist es vielen Menschen selbstverständlich geworden, sich mit östlicher Philosophie zu beschäftigen.

 

Diese ersten Bauhaus-Jahre werden fälschlich als die romantische Zeit des Bauhauses bezeichnet. Meiner Meinung nach waren es die universalistischen Jahre. Sicher sind damals im Überschwang des fieberhaften Suchens und Praktizierens Fehler gemacht worden. Es fehlte uns allen ein großer Lehrer, der in dem brodelnden Chaos hätte führen können.

Durch die Vorträge Adolf Hölzels in Stuttgart war ich selbst eindringlich auf die Bedeutung des Studiums alter Meisterwerk hingewiesen worden.

 

Das Wissen um die Arbeitsweise alter Meister ist nützlich.

 

Es schärft das Bewusstsein für Ordnung und Gliederung der Bildfläche und das Gefühl für Rhythmik und Texturen. Hindernd und schädlich kann dieses Studium nur dann sein, wenn man sich selbst nicht wachsam kontrolliert und in ein akademisch nachahmendes Arbeiten verfällt.

 

Immer, nachdem formale, rhythmische oder farbige Grundgesetze behandelt worden waren, ließ ich entsprechende Meisterwerke analysieren, um den Schülern zu zeigen, wieMeister die gleichen Probleme gelöst hatten. Wenn ein Klavierspieler zum ersten mal ein Musikstück spielend zu erleben sucht, kann sein Bestreben nicht sein, jede Note und jeden Takt nach der Vorschrift des Komponisten zu spielen, sondern er wird bemüht sein, das allgemeine, große Ganze der Komposition zu erfassen. Erst nach vielen mühsamen Einzelstudien kann er zu einer genauen Wiedergabe kommen.

Was mich dort besonders anzog, waren die Unterrichtsräume und Werkstätten, dazu die Tatsache, daß das Bauhaus noch leer war und deshalb Neues ohne große Abbrucharbeit aufgebaut werden konnte. Die von Walter Gropius bis zu diesem Zeitpunkt berufenen Lehrer Gerhard Marcks und Lyonel Feininger waren bereits dort. 

 

Ziel und Wege des Bauhauses waren 1919 noch wenig bekannt und lediglich durch ein Manifest von Walter Gropius publiziert worden.

 

In diesem Manifest hieß es unter anderem »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau ... Architekten, Bildhauer, Maler, wir müssen zum Handwerk zurück ... Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker, der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers... Die Grundlage des Werkmäßigen ist aber unerläßlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.«​

Es stellten sich mir für den Vorkurs drei Aufgaben:

 

1.

Die schöpferischen Kräfte und damit die künstlerische Begabung der Lernenden freizumachen.

 

Eigene Erlebnisse und Erkenntnisse sollten zu echtem Arbeiten führen. Die Schüler sollten sich nach und nach von aller toten Konvention befreien und Mut fassen für eigene Arbeit.

 

2.

Die Berufswahl der Studierenden sollte erleichtert werden.

 

Die Material- und Textur-Übungen waren hier eine wertvolle Hilfe. Jeder Studierende fand in kurzer Zeit heraus, welches Material ihn ansprach, ob Holz, Metall, Glas, Stein, Ton oder Gesponnenes ihn zu schöpferischem Tun anreizte. Leider fehlte damals für den Vorkurs die Bastelwerkstatt, in der alle grundlegenden Handgriffe, wie Hobeln, Feilen, Sägen, Biegen, Leimen und Löten, gemacht werden können.

 

3.

Für ihre zukünftigen künstlerischen Berufe sollten den Studierenden die Grundgesetze bildnerischen Gestaltens vermittelt werden.

 

Die Gesetze der Form und der Farbe eröffneten den Studierenden die Welt des Objektiven. Im Verlaufe der Arbeit konnten sich die subjektiven und die objektiven Form und Farbprobleme in vielfältiger Weise durchdringen.