bauhausbuch 09 kandinsky
punkt und linie zur fläche. beitrag zur analyse der malerischen elemente
schriftleitung
walter gropius
l. moholy nagy
Die mit Absicht engst gestellten Fragen der beginnenden Kunst-Wissenschaft überschreiten in konsequenter Entwicklung die Grenzen der Malerei und schließlich der Kunst im allgemeinen. Hier versuche ich nur einige Wegweiser aufzustellen – analytische Methode mit Berücksichtigung der synthetischen Werte.
Kandinsky
Weimar 1923
Dessau 1925
Tab. 2 Punkt
Vorsichgehende Auflösung (angedeutete Diagonale d-a)
Tab. 4 Punkt
Horizontal-vertikal diagonales Punktschema zu einem freien Linienaufbau
Tab. 5 Punkt
Der schwarze und weiße Punkt als elementar-farbige Werte
Tab. 3 Punkt
9 Punkte im Aufstieg (Betonung der Diagonale d—a durch Gewicht)
Fig. 89
Hartnäckig mit Nachsicht. Die Biegungen sind locker. Der Widerstand von links schwach. Von rechts verdichtete Schicht.
Tab. 1 Punkt
Kühle Spannung zum Zentrum
Tab. 6 Linie
Dasselbe in Linienform
MALEREI UND ANDERE KÜNSTE
In Bezug auf analytische Untersuchungen nimmt die Malerei unter anderen Künsten merkwürdigerweise eine Sonderstellung ein. Die Architektur zum Beispiel, die naturgemäß mit praktischen Zwecken verbunden ist, musste von vornherein gewisse wissenschaftliche Kenntnisse haben. Die Musik, die keinen praktischen Zwecke hat (abgesehen von Marsch und Tanz) und die bis heute allein für abstrakte Werke geeignet war, hat längst ihre Theorie, eine bis jetzt vielleicht etwas einseitige Wissenschaft, die sich aber in ständiger Entwicklung befindet. So haben die beiden zueinander antipodisch liegenden Künste eine wissenschaftliche Basis, und es wird kein Anstoß daran genommen. Wenn die anderen Künste in dieser Beziehung mehr oder weniger zurückgeblieben sind, so ist der Grad dieser Unterschiede auf den Grad der Entwicklung jeder dieser Künste zurückzuführen.
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Der Punkt
Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Er muß also als ein unmaterielles Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null. In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften verborgen, die menschlich sind. In unserer Vorstellung ist diese Null – der geometrische Punkt – mit der höchsten Knappheit verbunden, d. h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht.
So ist der geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen. Deshalb hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden – er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen.
Was noch immer als Punkt auf der sonst leeren Grundfläche gelten kann, das muss als Fläche bezeichnet werden, wenn z.B. eine sehr dünne Linie auf die Grundfläche hinzukommt.
Die Linie
Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht. Die Linie ist also der größte Gegensatz zum malerischen Urelement – zum Punkt. Sehr genau genommen kann sie als ein sekundäres Element bezeichnet werden.
Tanz
Im Tanz zeichnet der ganze Körper und im neuen Tanz jeder Finger Linien mit sehr deutlichem Ausdruck. Der moderne Tänzer bewegt sich auf dem Podium auf exakten Linien, die er in die Komposition seines Tanzes als ein wesentliches Element hereinzieht (Sacharoff). Außerdem ist der ganze Körper des Tänzers bis in die Fingerspitzen in jedem Augenblick ununterbrochen eine Linienkomposition (Palucca). Die Linienverwendung ist wohl eine neue Errungenschaft, aber selbstverständlich keine Erfindung des modernen Tanzes: abgesehen vom klassischen Ballett, arbeiten alle Völker auf jeder Stufe ihrer Entwicklung im Tanz mit der Linie.
Graphisches Schema des Sprunges
Ein Sprung der Tänzerin Palucca
Musik
Außer den bereits erwähnten Pauken- und Triangelschlägen können Musik Punkte in der Musik auf allerhand Instrumenten (besonders auf Schlaginstrumenten) hervorgebracht werden, wobei der Flügel geschlossene Kompositionen ausschließlich durch Zusammenstellungen und durch das Nacheinanderfolgen der Klangpunkte ermöglicht.
Die Grundfläche
Unter der Grundfläche wird die materielle Fläche verstanden, die Begriff berufen ist, den Inhalt des Werkes aufzunehmen. Sie wird hier mit GF bezeichnet. Die schematische GF ist von 2 horizontalen und 2 vertikalen Linien begrenzt und dadurch im Bereich ihrer Umgebung als selbständiges Wesen umrissen.
A
I. Vertikale Lage »Warme Ruhe«
II. Horizontale Lage »Kalte Ruhe«
B
I. Diagonale Lage »disharmonisch«
II. Diagonale Lage »harmonisch«
Fig 90
Hartnäckig in steiferer Spannung. Die Biegungen härter. Der Widerstand von rechts stark bremsend. Links lockere Luft.
ANHANG
Tab. 7 Linie
Mit Punkt an der Grenze der Fläche
Tab. 8 Linie
Betonte Gewichte in schwarz-weiß
Tab. 9 Linie
Die dünnen Linien halten Stand vor dem schweren Punkt
Tab. 10 Linie
Zeichnerischer Aufbau eines Teils der »Komposition 4« 1911
Tab. 11 Linie
Linienaufbau der »Komposition 4« – vertikaler-diagonaler Aufstieg
Tab. 12 Linie
Exzentrischer Aufbau, wobei das Exzentrische durch die entstehende Fläche betont ist
Tab. 13 Linie
Zwei Gebogene zu einer Geraden
Tab. 14 Linie
Das Langformat begünstigt die Gesamtspannung der wenig gespannten Einzelformen
Tab. 15 Linie
Freie Gebogene zum Punkt: Mitklingen Geometrisch-gebogener
Tab. 16 Linie
Freie Wellenartige mit Nachdruck — horizontale Lage
Tab. 20 Linie
Diagonale Spannungen und Gegenspannungen mit einem Punkt, der eine äußere Konstruktion zu innerem Pulsieren bringt
Tab. 24 Linie
Horizontal vertikaler Aufbau mit gegensätzlicher Diagonale und Punktspannungen. Schema des Bildes »Intime Mitteilung« 1925
Tab. 17 Linie
Dieselbe Wellenartige mit Begleitung von Geometrischen
Tab. 18 Linie
Einfacher und einheitlicher Komplex einiger Freier
Tab. 23 Linie
Innere Beziehung eines Komplexes von Geraden zu einer Gebogenen (links – rechts) zum Bild »Schwarzes Dreieck« 1925
Tab. 25 Linie
Linearer Aufbau des Bildes
»Kleiner Traum in Rot« 1925
»Kleiner Traum in Rot« 1925
wassily kandinsky:
warum mich der kreis fesselt?
er ist
1. die bescheidenste form, aber rücksichtslos behauptend
2. präzise, aber unerschöpflich variabel
3. stabil und unstabil gleichzeitig
4. leise und laut gleichzeitig
5. eine spannung, die zahllose spannungen in sich trägt.
kandinsky an grohmann am 21. nov. 1925. ausstellungskatalog 50 jahre bauhaus, stuttgart 1968
Titel/Typografie Herbert Bayer
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BAUHAUSBUCH 09 KANDINSKY
PUNKT UND LINIE ZUR FLÄCHE
BEITRAG ZUR ANALYSE DER MALERISCHEN ELEMENTE
schriftleitung
walter gropius
l. moholy-nagy
wassily kandinsky:
warum mich der kreis fesselt?
er ist
1. die bescheidenste form, aber rücksichtslos behauptend
2. präzise, aber unerschöpflich variabel
3. stabil und unstabil gleichzeitig
4. leise und laut gleichzeitig
5. eine spannung, die zahllose spannungen in sich trägt.
kandinsky an grohmann am 21. nov. 1925. ausstellungskatalog 50 jahre bauhaus, stuttgart 1968
MALEREI UND ANDERE KÜNSTE
In Bezug auf analytische Untersuchungen nimmt die Malerei unter anderen Künsten merkwürdigerweise eine Sonderstellung ein. Die Architektur zum Beispiel, die naturgemäß mit praktischen Zwecken verbunden ist, musste von vornherein gewisse wissenschaftliche Kenntnisse haben.
Die Musik, die keinen praktischen Zwecke hat (abgesehen von Marsch und Tanz) und die bis heute allein für abstrakte Werke geeignet war, hat längst ihre Theorie, eine bis jetzt vielleicht etwas einseitige Wissenschaft, die sich aber in ständiger Entwicklung befindet. So haben die beiden zueinander antipodisch liegenden Künste eine wissenschaftliche Basis, und es wird kein Anstoß daran genommen. Wenn die anderen Künste in dieser Beziehung mehr oder weniger zurückgeblieben sind, so ist der Grad dieser Unterschiede auf den Grad der Entwicklung jeder dieser Künste zurückzuführen.
Der Punkt
Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Er muß also als ein unmaterielles Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null. In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften verborgen, die menschlich sind. In unserer Vorstellung ist diese Null – der geometrische Punkt – mit der höchsten Knappheit verbunden, d. h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht.
So ist der geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen. Deshalb hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden – er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen.
Tanz
Im Tanz zeichnet der ganze Körper und im neuen Tanz jeder Finger Linien mit sehr deutlichem Ausdruck. Der moderne Tänzer bewegt sich auf dem Podium auf exakten Linien, die er in die Komposition seines Tanzes als ein wesentliches Element hereinzieht (Sacharoff). Außerdem ist der ganze Körper des Tänzers bis in die Fingerspitzen in jedem Augenblick ununterbrochen eine Linienkomposition (Palucca). Die Linienverwendung ist wohl eine neue Errungenschaft, aber selbstverständlich keine Erfindung des modernen Tanzes: abgesehen vom klassischen Ballett, arbeiten alle Völker auf jeder Stufe ihrer Entwicklung im Tanz mit der Linie.
Musik
Außer den bereits erwähnten Pauken- und Triangelschlägen können Musik Punkte in der Musik auf allerhand Instrumenten (besonders auf Schlaginstrumenten) hervorgebracht werden, wobei der Flügel geschlossene Kompositionen ausschließlich durch Zusammenstellungen und durch das Nacheinanderfolgen der Klangpunkte ermöglicht.